Augustin Sokolovski, Priester, Dr. Theol.
Es wird angenommen, dass das Fest Mariä Schutz und Fürbitte in Russland durch den heiligen Fürsten Andrej Bogoljubski (1111-1174) eingeführt wurde. Dieser im Todesjahr des islamischen Denkers Al-Ghazali[1] (1058-1111) geborene russische Großfürst verehrte den heiligen Andreas, den Narren um Christi willen besonders, weil ihm eine Episode aus dem Leben dieses Heiligen aus Konstantinopel als Anlass für die Einführung des liturgischen Festes der Fürbitte diente.
Andrej ist vor allem für die Verlegung der Hauptstadt der Rus' von Kiew nach Wladimir bekannt. Außerdem wurde er von den Bojaren ermordet, d.h. "unschuldig ermordet", und von der Kirche als heiliger Erdulder von Leid heiliggesprochen. Er wurde zwar getötet, hatte aber nicht für den christlich-orthodoxen Glauben gelitten und konnte daher formell nicht als Märtyrer betrachtet werden.
Ähnlich war es bereits im Fall der heiligen Fürsten Boris und Gleb (+1015) geschehen. Sie wollten ihr Recht für die Thronnachfolge nicht mit Gewalt verteidigen und wurden von ihrem Halbbruder Swjatopolk grausam ermordet. Sie starben nicht wegen ihres Glaubens und waren von daher keine Märtyrer. Um dieses "Hindernis" bei der Unterscheidung der Heiligkeit von Märtyrern und Passionsträgern zu überwinden, führte die russische Kirche zum ersten Mal in der Geschichte einen eigenen Rang der Heiligkeit ein – die Leidendulder (Russisch: "Strastoterptsy").
Viel später, an der Schwelle des dritten Jahrtausends, wurden Zar Nikolaus II. und seine Familie von der Kirche als Leidendulder anerkannt und heiliggesprochen. Damit wurde das "Fehlen eines sichtbaren Leidens für den Glauben" als Hindernis für ihre Kanonisation beseitigt. Auf diese Weise haben Boris und Gleb und Andrej Bogoljubski den Schleier des Schutzes der Mutter Gottes über die fromme Zarenfamilie ausgebreitet.
Es ist allgemein anerkannt, dass die Fürbitte ursprünglich ein russisches Fest ist. Wie der Begriff der Heiligkeit der "Passionsträger" wurde es zu Beginn der Geschichte der russischen Kirche eingeführt und erst später auch in anderen orthodoxen Kirchen, vor allem auf dem Balkan, gefeiert.
Das Genie der russischen Tradition, wenn es im Bezug auf das Fest der Mariä Schutz und Fürbitte wahrgenommen wird, liegt vor allem in ihrer Fähigkeit, durch das Prisma der historischen Ereignisse der Rettung von Konstantinopel, sowie der politischen oder sogar militärischen Dimension der Verehrung der Mutter Gottes, einen tiefen ideologischen und theologischen Inhalt zu sehen. In der Tat hat die wiederholte Rettung der Stadt - einmal, zweimal für die Augenzeugen dieser Ereignisse und für die Historiker immer – die, für das russische Bewusstsein ganz echte, semantisch wichtige und theologisch relevante Komponente der Teilnahme der Jungfrau am Schicksal der Geschichte erhellt. Ihre Beteiligung ist (Teil der) Heilsökonomie Gottes.
Forschern (welchen? Einigen ...) zufolge war die russische kirchliche Tradition in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens nicht in der Lage, sich in der Sprache der Theologie oder Philosophie selbstständig auszudrücken.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein, bis zum Aufkommen der russischen Religionsphilosophie, war unsere Kirche nicht in der Lage, der Welt einen einzigen wirklich und universell bedeutenden Denker, Philosophen oder Theologen zu schenken. Ein erstaunliches Gegengewicht zu diesem Schweigen, dieser Unfähigkeit und Zurückhaltung bildet jedoch die russisch-orthodoxe Ikone. "Spekulation in Farben" wird dieses Phänomen von Wissenschaftlern genannt. Und hier, im Bereich der Gegenüberstellung von Fest, Theorie und Ikone, treffen wir auf eine neue und überraschende Kontextualisierung ... das Fest der Fürbitte.
Tatsache ist, dass die griechische Tradition keine eigenen Bilder für das Fest der Mariä Schutz kennt. Die russische hingegen brachte verschiedene Typen der entsprechenden Ikonen hervor. Die Fürbitte fand ihre Fortsetzung in der Kirchenarchitektur: Es genügt, sich an die Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz, die Kirche der Fürbitte auf dem Nerl und andere Meisterwerke unserer mittelalterlichen Vergangenheit zu erinnern, die der Fürbitte der Mutter Gottes gewidmet sind.
Diese Spekulation in Farben widerspiegelt eine sehr tiefe Intuition, die das orthodoxe Verständnis des Dogmas der Mutter Gottes offenbart. Der vielleicht berühmteste Maria gewidmete Text, der Gruß des Engels bei der Verkündigung - "Freue dich, du Gesegnete, der Herr ist mit dir" – findet in der orthodoxen Liturgie eine interessante und belangreiche Kontextualisierung. In den Worten, die während der Göttlichen Liturgie oft wiederholt werden, wird Maria wiederum als "ehrwürdigste Cherubim und herrlichste Seraphim ohnegleichen" bezeichnet. Gleichzeitig (und das ist sehr wichtig zu begreifen) ist die Jungfrau das Bild eines jeden Gläubigen. Ein Bild, das im Fall von Maria selbst durch die Kraft der Gnade zu einer unendlichen Offenheit der menschlichen Person, des Geistes, der Seele und des Körpers gegenüber Gott geworden ist.
Dieses Fest hat also etwas zutiefst Anthropologisches, das unmittelbar mit der Menschheit und mit jedem einzelnen Menschen zu tun hat. In der Tat gibt es in der Gottesmutter ein unendliches Maß an Potentialität der menschlichen Natur. Das Bild Gottes als Gabe und Ebenbild Gottes, als Fähigkeit zur unendlichen Vollkommenheit in Gott, in Christus Jesus, der den Menschen "der göttlichen Natur teilhaftig" kostbar erhält (2 Petr 1,4).
Maria als das maximal mögliche und gleichsam realisierte Bild der menschlichen Seele und des menschlichen Körpers im Herrn und Gott. So wie es in den Kirchenliedern gesungen, in den biblischen Texten besungen und im Glaubensdogma an den Herrn Jesus, "Fleisch geworden aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria", verkündet wird. In diesem Sinne ist die Fürbitte eine Feier zu Ehren eines jeden Menschen in Christus. Die Fürbitte als Feier der rettenden Gnadengabe. Die Fürbitte als Rettung trotz allem.
[1] Al Ghazali hat sich mit der Autobiografie «der Erretter aus dem Irrtum» ins kollektive Gedächtnis religiöser Gelehrter des Monotheismus eingeschrieben. Zum Beispiel ist nach seiner Interpretation der Koransure 4,95 der Dschihad nicht nur ein Kampf auf dem Schlachtfeld, sondern vor Allem auch der eigene Kampf gegen das niedere Ich. Er trug mit seinem Wissen um die Bedeutung der inneren Gesinnung dazu auch zur Anerkennung des Sufismus als Lebensweise bei.